Überschwemmte Sommerwochen
- barbatom7
- 20. Sept. 2024
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 29. Dez. 2024
Es passiert inmitten einer Pendenzenflut:
Schulschluss-«Specials», medizinische Termine und organisatorische Absprachemails überschwemmen unseren Alltag, draussen prägen Starkregen und Sturmgewitter den ersten Sommermonat.
Am Abend eines randgefüllten Arbeitstags entdeckt Ben den Beinbruch. Jairo erinnert sich erst beim Nachfragen wieder an das auslösende Ereignis: Ein paar Stunden zuvor fand eine Therapeutin, man könne neue Selbständigkeitsziele definieren und warum nicht mal was mit den unteren Extremitäten… Das ist keine blöde Idee per se, aber wenn in den gelähmten Beinen die Osteoporose das Sagen hat und man das weiss, bespricht man dieses Vorhaben zuvor mit den Eltern, der Physio oder einem Arzt. Wenn man`s dennoch macht und es knackt auffällig, meldet man dies unvermittelt heim.
Jairo hat keine Sensibilität von der Brust abwärts und verspürt in diesen Bereichen keine Schmerzen. Wenn er einen halben Tag später zu Hause einrollt, hat er ein auffälliges Knacken in der Therapiestunde wieder vergessen.
So haben wir nach seiner Ankunft zu Hause die Pflege wie üblich ausgeführt und erst beim Ausziehen der weiten Hosen das auffällige Bein entdeckt. Gut möglich, dass durch unsere Pflegeverrichtungen die Verletzung - von der wir ja nichts wussten, nichts wissen konnten - noch schwerwiegender wurde.
Etwas später folgt im Inselspital die Diagnose einer komplizierten Femurfraktur; die Operation wird jedoch erst auf den übernächsten Tag festgelegt. Ein dafür benötigter Nagel sei nicht auf Lager und da Jairo keine Schmerzen verspürt, hat er keine Priorität im Operationsprogramm.
Für Ben und mich bedeutet das noch längere Mehrfachbelastung von Arbeit – Spital mit aufwändiger Pflege Jairo’s prä- und postoperativ – Rest der Familie plus Hund und das alles bei bereits tiefem Energietank.
Im Weitern sticht uns der emotionale Stress ins Herz. Wie viele Operationen haben schon Kerben in Jairos Kindheit geschnitten und wer weiss genau, welche Spuren lange Narkosen im Gehirn hinerlassen...
Wir ticken im Ausnahmezustand und stolpern in hechelndem Funktioniermodus durch die Woche.
Jairo kann nach 5 Tagen bereits heim. Zur üblichen Pflege türmen sich nun zusätzliche Verrichtungen wie Verbandswechsel und aufwändige Transfers.
Zwei Wochen später erneute Schwellung dort, wo der reinoperierte Nagel aufhört und Jairo schon ganz dumm hätte hinfallen sollen - wie die Ärzte meinten. (Es ist aber nichts passiert, kein Sturz oder komische Verrenkung wie beim 1. Bruch …)
Ich versuche die böse Ahnung eine Weile lang mit grösstmöglichem Widerstand von Jairo und uns allen fernzuhalten -und weiss doch nur zu gut, dass man sich so nicht gegen das Schicksal wehren kann.
Wenig später ist der Folge-Bruch Gewissheit. Wiederum komplizierte Operation mit langer Narkose, bei der die Ärzte den zuvor einoperierten Nagel mühsam raus»grübeln» und einen neuen Nagel von oben (Becken) runterstecken müssen.
Diesmal erholt sich Jairo nicht recht. Er wirkt verlangsamt, reduziert und die Wunden heilen schlecht. Ein grünliches Wundsudat lässt uns zusammenzucken: Nicht noch eine gefürchtete Pseudomonas-Infektion…!
Bei Ferienbeginn macht sich zudem die Erschöpfung breit und es dämmert uns allmählich, wie lange und unsicher die Erholungszeit sein könnte. Baden darf Jairo bis auf weiteres auch nicht und es ist heisses Juliwetter. Er liebt das schwerelose Gefühl im Wasser. Dort sind seine Bewegungsmöglichkeiten ebenfalls eingeschränkt, dennoch weiten sich seine engen Grenzen da. Die gesunden Kinder tummeln sich zudem ähnlich im kühlen Nass wie Jairo; der riesige Unterschied ist weniger spür – und sichtbar als an Land.
Anstatt mit solch vergnüglichen Sommeraktivitäten ist unsere erste Ferienwoche vor allem mit Pflege besetzt, mit Hoffen und Bangen, dass die Wunden heilen und nichts Schlimmes mehr passiert: Die Ärzte mahnten nach der Refraktur im Juni zu äusserster Vorsicht.
Heute Nachmittag besucht uns eine ehemalige Betreuungsperson Jairos. Ich bin froh, kommt sie auf unsere Anfrage spontan vorbei und verbringt etwas Zeit mit unserem Sohn.
Nach dem Hochlagern des Beins im Bett und dem Rücktransfer in den Rollstuhl fällt mir eine deutliche Schwellung des Frakturbeins auf. Ich will weder Jairo noch den Besuch stressen mit meiner Angst und entscheide, vorerst nur weiter zu beobachten.
Dennoch rutscht das Herz in die Hosen und ich weiss nun, warum man das so sagt. Noch nie habe ich so deutlich erlebt, wie es oben erstarrt und unten schlottert. Ich nehme den Hund, der schon lange auf einen Spaziergang gewartet hat und stürme aus dem Haus.
Im letzten Moment packe ich noch die Einkaufsliste. Vielleicht kann man in diesem Zustand doch etwas Nützliches erledigen? Mit zittrigen Extremitäten setze ich einen Fuss vor den andern und versuche die wild tosenden Szenarien im Kopf zu dämmen. Ein paar Sekunden später schwemmen sie wieder grell blinkend die innere Bühne. Wie fern gesteuert folge ich den Pfoten des Vierbeiners.
Das Flashback verschiedener Operations - und Komplikationsgeschichten hat die Regie übernommen - und ich finde keinen Rettungsring.
Psalmen beten, fällt mir etwas später ein und ich erinnere mich an Worte, in denen andere vor Jahrtausenden geklagt, geschrien und gefleht haben.
Im Migros erledige ich ein paar Einkäufe und spüre bei der Kasse, dass die Atmung ruhiger geht.
Am Abend ist die Sorge klein geworden. Die auffällige Schwellung rührte wahrscheinlich vom neuen Sitzkissen (das wir dann gleich wieder auf die Seite gelegt haben) und den Transfers. Es gab keinen 3. Bruch in Folge und wir konnten danach wenige, recht erholsame Ferientage verbringen.
Wie in dieser erzählten Bruchgeschichte vermögen einschneidende Geschehnisse Schutzbauten ausser Kraft zu setzen; vergleichbar einem tosenden Bach nach Unwettern, der alles mit sich reisst und Wohnräume überschwemmt.
Nach dem Unwetter geht es schrittweise ans Aufräumen. Angeschwemmte Autos, Haushaltmaterial und Geröll müssen entfernt, Strassen gereinigt und wieder intakt gestellt, Keller ausgepumpt werden...
Die beschriebene Schreckvorstellung an jenem Nachmittags bewahrheitete sich nicht und trotz den aufreibenden Wochen waren die Fraktur-Operationen im Vergleich zu früheren, lebensbedrohlichen Komplikationen und sehr langen Spitalaufenthalten moderat. Schaut man in die Welt hinaus oder vielleicht auch nur ein paar Häuser weiter in das Leben einer kriegstraumatisierten, syrischen Familie – so relativieren sich zudem unsere Herausforderungen an solchen Schicksalen gemessen. Auch wenn jede Situation nie objektiv beurteilt werden kann, sondern immer in einem grossen Geflechte von verschiedenen Faktoren individuell erlebt wird.
So oder so erleben wohl alle Menschen mal Zeiten, in denen Geschehnisse die Seele überschwemmen und den Geist lahmlegen. Situationen, in denen das Herz in die Hosen rutscht und der Körper schlotternd weiter einen Fuss vor den andern setzt. Was dann? Den Körper und die Seele schreien lassen - und annehmen, was nicht zu ändern ist....
Und wenn sich das Unwetter (etwas) gelegt hat: Schritt für Schritt versöhnen mit Geschehenen; - in unserem Fall der Sinnlosigkeit dieser Bruchserie mit dem Energieverschleiss der letzten Wochen.
Wieder nach vorne schauen und ins Vertrauen und Hoffen zurückhangeln…!
*Überschwemmungsfoto von pixabay
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