Unter «seinesgleichen»
- barbatom7
- 10. Mai
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 12. Mai

Jugendreha-Camp zum Zweiten. Endloses Packen die Tage zuvor, alles Material für Darm – und Blasenspülungen, Katheterisieren, das CPAP-Gerät, Verbandsmaterial und Sitzkissendoppel, Pflegedokumentationen und Listen erstellen; auch noch übliches Zeug wie Kleider, Sonnencremes, Ersatzbrillen, Ladekabel und Spiele ins Gepäck räumen. Mir schwirrt der Kopf.
Vor der Abfahrt am Morgen nochmals die grosse Pflege (Darmspülung und Verbandswechsel der Operationswunden). Danach sind wir unterwegs nach Nottwil, knapp dran und mit viel Verkehr unterwegs.
Im Paraplegikzentrum zu spät angekommen eile ich zum katheterisieren. Beim Hochfahren des Elektrorollstuhls in die Sitzposition bemerke ich, dass der Fuss Jairos beim Lavabo des Behinderten-WC leicht eingeklemmt war. Er spürt solcherlei nicht. Die Furcht, es sei wieder etwas kaputt gegangen bekämpfen (grad haben wir aufgrund seiner Osteoporose zwei grössere Operationen hinter uns…) und auf die Abteilung hetzen.
Beim Transfer dort in den Handrollstuhl bestätigt sich der Verdacht, den wir schon auf der Autofahrt hegten: Stuhlinkontinenz, Durchfall – alles muss gewechselt werden, eine mühsame Geschichte bei einem Fast – Tetraplegiker. Ich erscheine zu spät und angespannt ans Erstgespräch. Wir, die jegliche Stuhlinkontinenz vom letzten Jahr mit ihren damals mühsam erlebten Folgen vermeiden wollen und immer betonten, dass dies bei uns kaum mal geschehe (was auch stimmt!), kommen nun so im Reha-Camp an.
Zudem braucht mich das Loslassen von Jairo mit seinen komplexen medizinischen Diagnosen, Baustellen und Pflegebesonderheiten unglaublich viel Energie. Ob wir an alles denken bei den verschiedenen Arzt-Pflege–Therapie-Übergaben?
Beim Mittagessen mit einer Mutter und ihrem Sohn bahnt sich der nächste Stress an. Ihr Knabe ist fast gleichaltrig wie Jairo und hat die gleiche Diagnose wie er, zeigt aber so viel weniger Einschränkungen, motorisch, sozioemotional und kognitiv. Bis zu diesem Zeitpunkt konnte ich es verdrängen, auch wenn wir es vom letzten Jahr und andern ähnlichen Treffs nur zu gut wüssten: Es gibt einen riesigen Ressourcen- und Beeinträchtigungsunterschied zwischen Jairo und fast allen andern Jugendlichen, die sich hier im Reha-Camp befinden. Die Mutter meint auf meine Erläuterung, Jairo habe bei allen spina bifida- Einschränkungen die maxi-extra-schwere Variante abgekriegt, dass dies bei ihrem Sohn auch so sei. Was im genannten Kontext so tönt wie: «Aber er ist dank unserer optimalen Förderung dennoch gut rausgekommen. Was ist denn bei eurem Jungen schief gegangen?»
Das wollte sie wohl kaum ausdrücken und sie hat weder Aussage noch Frage wortwörtlich so gesagt. Bei mir klang es dennoch auf diese Weise an.
Wie hatten wir doch in der Schwangerschaft gehofft, dass Jairo, wenn schon beieinträchtigt, wenigstens zu der grossen Mehrheit der spina bifida-Patienten gehören möge, die eine hohe Selbständigkeit erlangen und sich abgesehen von Gehbehinderung und Blasen-Darmlähmungen normal entwickeln mögen.
Wie viel an Therapiezeiten und Engagement, Bitten und Hoffen haben wir für diesen Wunsch eingesetzt.
Beim wieder mal gewahr werden der anderen, eingetroffenen Realität schwellt eine Krise an und Mutlosigkeit schlingert sich um meine Gedankenstränge.
Sonst taucht die Frage kaum mal noch auf, weshalb sich andere mit der gleichen Diagnose deutlich weniger beeinträchtigt entwickeln, Selbständigkeit erlangen, Freundschaften schliessen und ihre Tage weitgehend eigenständig planen können. Meist bin ich versöhnt damit, dass Jairo das Extra-Maxi-Los bezüglich Behinderungsschweregrad in der spina -bifida -Gruppe gezogen hat.
Wir lieben ihn, seine Art zu lachen, uns anzuschauen, das Zusammensein mit ihm. Das reicht!
Heute ist es anders. Als wir uns nach einigen Stunden von Jairo verabschieden, hat sich die Gruppe in ihren Rollstühlen im Kreis formiert und viele der Jugendlichen unterhalten sich schon vertraut miteinander. Unser Sohn ist etwas abseits und guckt nur. Die Tatsache, dass er auch hier im Rehacamp unter «seinesgleichen» der weitaus Versehrteste ist und mit seiner Sprachartikulationsstörung und sozial zu scheuer, beobachtender Art nur schlecht in die Peer Gruppe findet, boxt mir mächtig ins Herz. Wir fahren heim und ich fühle mich wie nach einem Ko - Schlag.
Ich werde diesen Schmerz über seine so engen Grenzen mahlen müssen, bis die Liebe zu Jairo, die unabhängig von diesen Tatsachen lebt und stärker ist, wieder ein Mehl rausgibt, das JA heisst. Ja, zu diesem wunderbaren Menschen, seinem Leben, unserer Geschichte mit ihm und den vielen Fragen, auf die es keine Antwort gibt.
Dann wird es wieder gut sein, so wie es ist!
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