Mitmenschen…
- barbatom7
- 1. Aug. 2024
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 9. Aug. 2024

Manchmal bin ich als Mutter eines behinderten Kindes versucht, die Leute in verschiedene Kategorien einzuteilen. Das sieht dann wie folgt aus:
Kategorie 1: Das sind diejenigen, denen wir fremd sind, die sich unsere Situation nicht oder kaum vorstellen können und die sich dessen bewusst sind. Menschen der Kategorie 1 bleiben wenn möglich auf sicherer Distanz und bemühen sich, grundsätzlich korrekt mit uns umzugehen.
Sie zeigen eine „maximale verbale Aufgeschlossenheit bei gleichzeitiger Verhaltensstarre“ - so könnte man es mit dem Satz des deutschen Soziologen Ulrich Beck ausdrücken. Sie können nichts dafür, dass man behinderte Kinder lange Zeit wegsperrte und die meisten Menschen mit einer Beeinträchtigung heute gar nicht erst auf die Welt kommen.
Sie hatten kaum Gelegenheit, einen natürlichen Umgang mit behinderten Menschen zu erhalten. Zudem sind sie - wie wir alle - Kinder unserer Gesellschaft, welche Leistung und Gesundheit über alles stellt.
Kategorie 2: Darunter fasse ich die, welche sich unsere vielschichtige Situation nicht wirklich vorstellen können, jedoch so tun, als wüssten sie Bescheid. Sie zücken gerne gescheite Sätze oder tun, als hätten sie schon Ähnliches erlebt. Zur Illustration ein Beispiel: Wir wohnen neben dem Fussballplatz und Jairo sieht täglich, wie die Kinder sich dort austoben. Im Alter von fünf Jahren weinte er oft und bat mich, ihn doch endlich auch dort mitspielen zu lassen, was mit seinem gelähmten Körper ein Ding der Unmöglichkeit ist. Davon habe ich einigen Bekannten erzählt. Eine Frau meinte sogleich, ob er denn nicht einfach lernen müsse, dass er nicht alles könne und halt seine Grenzen annehmen und sie hätte da eine ähnliche Situation, weil ihr Sohn ja nicht gleich gut Tennis spielen könne wie sein Freund usw. blabliblabla...
Klar muss jedes Kind lernen, dass sein Fähigkeitenprofil Grenzen hat und es in gewissen Bereichen von Gleichaltrigen übertroffen wird. Ihr Kommentar und der Vergleich mit ihrem – wohlverstanden - völlig gesunden Sohn war im besagten Kontext dennoch nicht nur voreilig, sondern voll daneben!
Manchmal sind mir die Konfrontationen mit der Kategorie 2 zu viel zusätzliche Mühsal.
Sie bleiben dennoch da, Begegnungen mit diesen „klugen“ Zeitgenossen, die noch nie vom Schicksal gebeutelt wurden und sich kaum mal tiefen, existentiellen Fragen stellen mussten. Sie neigen zu seichten Antworten und Urteilen, ohne sich auf unsere Lebensrealität einzulassen.
Sie sind vor allem bemüht, sich gleich wieder in ihrem plus minus bequemen Alltag einzurichten.
Kategorie 3: Diejenigen, welche versuchen, zuzuhören und sich in unsere Situation einzufühlen. Dabei anerkennen sie, dass ihr Vorstellungsvermögen begrenzt bleibt. Gleichzeitig bleiben sie unsere Gegenüber und teilen Zeit und Leben mit uns und wir mit ihnen.
Da könnte man noch die Kategorie 3a anfügen: Das wären all diejenigen, welche wir nicht so nahe kennen. Ihre Art, Jairo zu begegnen und sich auch von ihm überraschen zu lassen, tut uns wohl.
Selbstverständlich gibt es noch mehr Kategorien und „Dazwischenkategorien“ und das Zugehören zur einen oder anderen ist oft situativ.
Und natürlich ist es falsch, Menschen in (Kategorien-)Schubladen zu stecken; eine Unart, unter der ja gerade beeinträchtigte Menschen oft leiden.
Es sei hier nur zur Verdeutlichung der verschiedenen Haltungen geschehen, die uns im Alltag mit einem behinderten Kind begegnen.
Was ich aus vielen Begegnungen mit den unterschiedlichsten Menschen gelernt habe: Auch in mir steckt manchmal ein Teil dieses „Kategorie - 2-Typs“, diese „Kontrollnatur“, die gerne überprüft, was sie wie an sich rankommen lässt und versucht, sich Unangenehmes und Herausforderndes mit klugen Erklärungen und Wertungen vom Leib zu halten.
In diesen Momenten entzieht sich jedoch auch das Leben mit seinen schmerzlichen, leidvollen, intensiven und schönen Begegnungen. Unsicherheit, dunkle Zeiten und unangenehme Herausforderungen als Anrede zu hören und hinzuhorchen, bevor man darauf antwortet, ist nicht einfach.
Es zahlt sich jedoch in vielerlei Hinsicht für alle aus.
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